Beitrag im horus von Prof. Dr. Henning Daßler
Hintergrund: Das aktuelle Verständnis von Teilhabe und Behinderung
Das Verständnis von Behinderung hat in den vergangenen 20 Jahren eine wesentliche Wandlung erfahren. Diese findet ihren Niederschlag in der Sozialgesetzgebung, in den Konzepten und Arbeitsmodellen der Rehabilitation und Behindertenhilfe und in den Publikationen und Forschungsaktivitäten der wissenschaftlichen Disziplinen in diesem Bereich.
Diese Entwicklung findet ihren sprachlichen Ausdruck im Begriff der „Teilhabe“, der seit der Jahrtausendwende mit der Aufnahme in das SGB IX das Behindertenrecht maßgeblich prägt und mittlerweile als „Leitgedanke des deutschen Rehabilitationsrechts“ bezeichnet werden kann (Brütt u.a. 2016). Diese Entwicklung wurde mit dem aktuellen Bundesteilhabegesetz noch einmal verstärkt, welches explizit das Ziel einer „vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“ für Menschen mit Beeinträchtigungen formuliert und damit der Formulierung in den Artikeln 1 und 3 der UN-Behindertenrechtskonvention Rechnung trägt.
Neben der Intention einer Verbesserung der Lebensverhältnisse von Menschen mit Beeinträchtigungen spiegelt sich hier ein verändertes Verständnis von Gesundheit / Krankheit und Behinderung wider, das als „bio-psycho-soziales Modell“ bekannt geworden ist (Engel 1977). Nach diesem Modell ist Behinderung nicht als eine reine Krankheitsfolge zu begreifen, sondern entsteht aus einer komplexen Wechselwirkung zwischen körperlichen/psychischen Prozessen, Umweltvariablen und Merkmalen der Person. Die von der Weltgesundheitsorganisation entwickelte Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) versucht dieser Komplexität Rechnung zu tragen, indem sie zwischen Komponenten der Funktionsfähigkeit / Behinderung und umwelt-/personenbezogenen Kontextfaktoren unterscheidet (DIMDI 2004). So wird es möglich, realistischer und umfassender zu erfassen, wie sich die Teilhabesituation von Menschen mit Beeinträchtigungen darstellt. Die Frage, ob Betroffene in einer großstädtischen oder ländlichen Umgebung wohnen, inwieweit sie Unterstützung in der Familie haben und ob sie in ihrem Umfeld mit ihrer Beeinträchtigung akzeptiert werden oder Unverständnis und Ablehnung erfahren, spielt damit für das Verständnis von Behinderung eine wichtige Rolle. Damit rückt insbesondere der Aspekt der gesellschaftlichen Barrieren in den Fokus, die einer gleichberechtigten und selbstbestimmten Teilhabe entgegenstehen.
Nicht nur für das Verständnis von Behinderung ist der Begriff der Teilhabe immer wichtiger geworden, auch im Bereich der Arbeitsmarktpolitik und in der Sozialberichterstattung erlangte das Konzept der Teilhabe wachsende Bedeutung (Bartelheimer 2007). Damit entsteht aber auch die Frage, was in den unterschiedlichen Politikfeldern jeweils unter Teilhabe verstanden wird.
Entstehung und Zielsetzung des Bündnisses
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Behinderung ist davon geprägt, dass unterschiedliche Disziplinen und Forschungsfelder (z.B. Erziehungswissenschaft, Ethik, Anthropologie, Disability Studies, Gerontologie, Medizin, Ökonomie, Philosophie, Politikwissenschaft, Psychologie, Rechtswissenschaft, Soziologie, Technikwissenschaften, Gender Studies) mit jeweils eigener Tradition und unterschiedlichem Selbstverständnis nebeneinander existieren und eigene theoretische und methodische Zugangsweisen zum Thema entwickelt haben. Hier ist das Bedürfnis gewachsen, über den Blickwinkel der jeweiligen Einzeldisziplinen hinaus Teilhabeforschung als ein interdisziplinäres Forschungsfeld zu begreifen und sich gemeinsam um die Schaffung von Rahmenbedingungen zu bemühen, die wissenschaftlichen Austausch und Forschung fördern (Aktionsbündnis Teilhabeforschung 2015a).
Das Aktionsbündnis Teilhabeforschung ist ein Zusammenschluss von derzeit ca. 140 Organisationen und Einzelpersonen aus den Bereichen Wissenschaft, Betroffenenorganisationen, Fach- und Wohlfahrtsverbänden, die in dem Themenfeld Rehabilitation und Behinderung engagiert sind. Das Bündnis hat sich 2015 konstituiert. Als Aktionsbündnis bildet es keine juristische Person. Es ist organisatorisch an das Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW) in Berlin angebunden und finanziert sich aus Mitgliedsbeiträgen.
Ziele und Aufgaben des Aktionsbündnisses sind (Aktionsbündnis Teilhabeforschung 2015b):
- Bündelung, Integration und Vernetzung von teilhabeorientierten Forschungsaktivitäten
- Vernetzung beteiligter Forschender
- Profilierung einer neuen Querschnittsdisziplin der Teilhabeforschung
- Formulierung von prioritärem, zukunftsorientiertem und innovativem Forschungsbedarf
- Aufbau und Koordination von Nachwuchsförderung
- Bewusstseinsbildung bei Fachöffentlichkeit, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sowie Entscheidungstragenden
- Ansprache von Forschungsförderern, Stimulation von Forschungsförderung
- Initiierung eines bundesweiten Forschungsförderprogramms „Teilhabeforschung“
Die gemeinsame Basis der Mitglieder im Aktionsbündnis liegt in der konzeptionellen Ausrichtung auf die UN-Behindertenrechtskonvention. Die Bündnispartner begreifen ihr Engagement als Beitrag zur Umsetzung der in den Artikeln 4 und 31 der Konvention formulierten Forderung an die Vertragsstaaten, Forschung und Entwicklung im Interesse von Menschen mit Behinderungen und im Einklang mit den menschenrechtlichen Prinzipien Partizipation, Inklusion, Barrierefreiheit und Gleichstellung zu betreiben.
Der interdisziplinären Ausrichtung des Forschungsbündnisses entspricht eine breite Orientierung hinsichtlich der Anwendung wissenschaftlicher Methoden mit einem besonderen Interesse an partizipativen Forschungsansätzen, die Betroffene in den Forschungsprozess integrieren. Außerdem wird ein besonderes Gewicht auf die Praxisrelevanz von Forschung gelegt, da es ein wichtiges Ziel von Teilhabeforschung ist, Transformationsprozesse in Hinblick auf eine inklusive Gesellschaft voranzutreiben (Aktionsbündnis 2015a: 6). Übereinstimmend wird auch das Ziel geteilt, eine einseitig auf den deutschsprachigen Raum beschränkte Perspektive zu überwinden und den Anschluss an den internationalen Stand der Teilhabeforschung herzustellen.
Arbeitsgruppen
Zur Umsetzung der genannten Zielsetzungen haben sich im Rahmen des Aktionsbündnisses verschiedene Arbeitsgruppen gebildet:
AG Internationalisierung (Leitung: Prof. Dr. Matthias Otten, TH Köln) / Prof. Dr. Sabine Schäper, Katholische Hochschule NRW, Münster)
AG Öffentlichkeit und Vernetzung (Leitung: Barbara Vieweg, Tätigkeit derzeit ruhend)
AG Partizipative Forschung & Forschungsmethoden (Leitung: Dr. Vera Tillmann, Forschungsinstitut für Inklusion durch Bewegung und Sport, Köln)
AG Teilhabeberichterstattung (Leitung: Andreas Bethke)
AG Förderung von Teilhabeforschung (Leitung: Vertr. Prof. Dr. Monika Schröttle, TU Dortmund / Dr. Susanne Dibbelt, Reha-Klinik Bad Rothenfelde)
AG Begriffe und Theorien (Leitung: Prof. Dr. Henning Daßler, Fulda)
Die Arbeitsgruppen erarbeiten Positionen und Stellungnahmen zu den jeweiligen Themenbereichen. Diese werden im Rahmen von jährlichen Fachtagen des Aktionsbündnisses vorgestellt und diskutiert.
Aktivitäten
Das Bündnis bringt sich über seine gewählten Sprecher (derzeit: Barbara Vieweg und Prof. Dr. Markus Schäfers) auch in aktuelle Debatten und sozialpolitische Diskussionen ein. So erfolgten Stellungnahmen des Bündnisses zu Fragen der Begleitforschung im Rahmen der Einführung des Bundesteilhabegesetzes und zu den aktuellen Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl.
Die bereits angesprochenen jährlichen Bündnisversammlungen sind mit Fachtagungen zu aktuellen Themen und Fragen verknüpft. Auf der letzten Bündnistagung im November 2017 stand eine umfassende Auseinandersetzung mit dem aktuellen Teilhabebericht der Bundesregierung im Vordergrund, von der ich nur einige Aspekte herausgreifen möchte.
Frühere Behindertenberichte beschränkten sich auf eine Darstellung staatlicher Leistungen für Menschen mit Behinderungen. Im Zuge der UN-Behindertenrechtskonvention ist die Bundesregierung dazu verpflichtet, regelmäßig über die Lebenslage und Teilhabesituation behinderter Menschen Bericht zu erstatten. Dazu fehlen aber zum einen noch notwendige Daten, zum anderen sind auch wichtige Grundbegriffe, auf die der Teilhabebericht Bezug nimmt, sowohl rechtlich als auch wissenschaftlich noch nicht hinreichend geklärt. Außerdem wurde die Frage aufgeworfen, wie eine aktive (d.h. forschende) Beteiligung von Menschen mit Behinderungen im Forschungsprozess gefördert werden kann.
Um das Problem der fehlenden Datengrundlage zu lösen, hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales das Institut für angewandte Sozialwissenschaft (infas) in Bonn mit der Durchführung einer "Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen" (Teilhabe Survey) beauftragt. Dabei handelt es sich um die erste bundesweit repräsentative Erhebung zu den Lebensumständen behinderter Menschen in Deutschland, die 21.000 Betroffene einbezieht und von Prof. Elisabeth Wacker (TU München) und Prof. Markus Schäfers (Hochschule Fulda) wissenschaftlich begleitet wird (BMAS 2017).
Eine weitere Klärung von Begriffen wie „Behinderung“ und „Teilhabe“ ist erforderlich, damit die Aussagekraft der Teilhabeberichterstattung erhöht und die Ergebnisse von Forschung verglichen und bewertet werden können. Hier wird sich die Arbeitsgruppe „Begriffe und Theorien“ im intensiven Austausch zwischen Wissenschaftlern, interessierten Praxisvertretern und Vertretern von Betroffenenorganisationen – u.a. Herrn Boysen vom DVBS - um eine weitere Klärung bemühen.
Literatur
Aktionsbündnis Teilhabeforschung (2015a): Gründungserklärung vom 4.2.2015. teilhabeforschung.bifos.org/index.php/ueber-uns/gruendungserklaerung [12.1.2018]
Aktionsbündnis Teilhabeforschung (2015b): Statut. teilhabeforschung.bifos.org/index.php/ueber-uns/statut [12.1.2018]
Bartelheimer, P. (2007): Politik der Teilhabe - ein soziologischer Beipackzettel. library.fes.de/pdf-files/do/04655.pdf (2.1.2018).
BMAS: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2017): Startschuss für repräsentative Studie zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. www.bmas.de/DE/Presse/Meldungen/2017/startschuss-repraesentative-studie-zur-teilhabe-menschen-mit-behinderungen.html [20.12.2017].
Brütt, A. L., Buschmann-Steinhage, R., Kirschning, S., & Wegscheider, K. (2016): Teilhabeforschung. Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz, 59(9), 1068-1074.
DIMDI: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (Hrsg.) (2004): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, Köln.
Engel, G. L. (1977). The need for a new medical model: a challenge for biomedicine. Science, 196(4286), 129-136.
Zum Autor
Prof. Dr. Henning Daßler (52) lehrt an der Hochschule Fulda am Fachbereich Sozialwesen die Themengebiete Gemeindepsychiatrie, Rehabilitation und Beratung. Er hat am Fachbereich für Erziehungswissenschaften der TU Braunschweig promoviert und in der gemeindepsychiatrischen Versorgung, der Behinderten- und Wohnungslosenhilfe gearbeitet. Prof. Daßler ist außerdem Mitglied im Aufsichtsrat des Bathildisheim e. V. in Bad Arolsen und im Vorstand des Vereins Ambet e.V. in Braunschweig.
Foto 1: Prof. Dr. Henning Daßler. Foto: privat (Auf dem Portraitfoto vor grünen Bäumen und Büschen trägt Prof. Daßler einen schwarzen Anzug und ein schwarzes Hemd. Er hat kurz geschnittene graue Haare und eine schmale Brille.